Ja – die Geduld ist am Ende. Ja – wir brauchen eine Perspektive. Meinetwegen – Geimpfte sollen nicht weiter auf einige ihrer verbrieften Grundrechte verzichten müssen.
Aber ist das schon alles? Für Kinder und Jugendliche ist das gar nichts.
Während wegen der hohen Inzidenzzahlen Kindertagesstätten und Schulen geschlossen werden, geht das Arbeitsleben der Erwachsenen in vielen Branchen uneingeschränkt weiter. Während Kinder und Jugendliche an der gesellschaftlichen Meinungsbildung unbeteiligt bleiben, werden alle über 18-Jährigen im September einen neuen Bundestag wählen dürfen. Während nirgends absehbar ist, wann es einen Impfstoff für junge Menschen geben wird, wedeln Erwachsene fröhlich mit ihren Impfausweisen und freuen sich auf das, was sie bald alles wieder dürfen.
Die individuellen Bewältigungsstrategien für die Pandemie verstärken den gesellschaftlichen Befund der letzten Jahre: „Warum soll ich eine Maske tragen, wenn ich keine Angst vor dem Virus habe? Warum soll ich mich impfen lassen, wenn es mir persönlich nichts bringt?“ – Der Blick auf die anderen ist völlig verstellt. Die eigene Freiheit wird eingefordert. Die eigene Verantwortung wird am liebsten delegiert. In einer Gesellschaft dürfen die eigenen Freiheitsrechte nicht von den Freiheitsrechten anderer entkoppelt werden!
Die Geduld und die Solidarität der Kinder und Jugendlichen ist bis aufs äußerste gefordert: Sie ertragen „Distanzunterricht“ und sind gleichzeitig ihrer wesentlichen Entfaltungs- und Kontaktmöglichkeiten mit Gleichaltrigen beraubt. Sie wissen nicht, wann auch sie die Gelegenheit bekommen, in den erlauchten Kreis der Geimpften aufzusteigen. Sie wissen nur, dass sie eines Tages die riesigen Kosten der Pandemie werden finanzieren müssen.
Zur Debatte über Öffnungsschritte für Geimpfte gehört daher untrennbar auch eine Debatte über die zeitnahe Öffnung von notwendigen Entwicklungsräumen in der Lebenswelt von jungen Menschen. Wie wäre es, mit der Diskussion über Flugreisen ans Mittelmeer gleich noch die Ermöglichung von Sommerfreizeiten und Camps zu verbinden? Wie wäre es, mit der Forderung zur uneingeschränkten Wiederöffnung von Baumärkten die Forderung nach der uneingeschränkten Öffnung von Jugendtreffs sowie Sport- und Gruppenangeboten zu verknüpfen?
Das eine geht nicht ohne das andere. Wenn Kinder und Jugendliche zuschauen müssen, wie sich die Welt der Erwachsenen öffnen wird, ohne dass sich die Möglichkeiten in ihren Lebensräumen normalisieren, verlieren wir die Balance. Ansonsten können wir nur hoffen, dass sie bei der Bewältigung anderer Krisen sich ihre Eltern und Großeltern nicht zum Vorbild nehmen.
Georg Zimmermann
Landesjugendpfarrer
Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens
Landesjugendpfarramt
- April 2021