In Juja vorm DDR-Gericht – Im Nachgang 60 Jahre Mauerbau 2021

IN JUJA VORM DDR-GERICHT (Autor/Recherche: Michael Maillard)

Im August 1961 wurden Christliche Pfadfinder aus Ost-Berlin zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt …

Ein junger Mann steht in einem holzgetäfelten Raum vor zivil gekleideten, sitzenden Menschen. Er trägt eine „Jungenschaftsjacke“, kurz „Juja“ genannt – ein in der deutschen Jugend- und Pfadinderbewegung beliebtes Kleidungsstück. Eine Tischlampe mit buntem Lampenschirm gaukelt eine Wohnzimmeratmosphäre vor. Doch die Situation für den Jugendlichen ist alles andere als angenehm. Er steht vor einem Gericht in der DDR im Sommer 1961. Wenig später wird er zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.

Jürgen Wiechert vor Gericht; Foto: Jürgen Fensch, aus: Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ? Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock. Hinsdorff-Verlag, Rostock 2002. (S. 67).

Es ist der damals 18jährige Jürgen Wiechert, Angehöriger der Christlichen Pfadinderschaft in Ost-Berlin. Mit ihm erhält der 25jährige Kreuzpfadinder Dietrich Gerloff ebenfalls acht Jahre. Horst Linke, auch ein CPer, bekommt zwei Jahre Gefängnis, weitere Jungen und Mädchen Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren. Vorgeworfen wird den jungen Leuten insbesondere, sie hätten versucht, ein Ausflugsschiff mit Gewalt aus der DDR zu entführen und damit nach Bornholm zu flüchten.

Unter der Überschrift „Piratenpleite – Zuchthaus für NATO-Jünglinge beantragt“ schrieb das „Neue Deutschland“ (Zentralorgan der SED und größte Tageszeitung der DDR) am 26.8.1961:

Das mit einem Piratenanschlag auf das Seefahrgastschiff „Seebad Binz“ gekrönte verbrecherische Treiben einer Gruppe der Jungen Gemeinde aus Berlin-Schmöckwitz steht seit Dienstag im Mittelpunkt eines Prozesses vor dem Bezirksgericht Rostock. Für die beiden Hauptangeklagten Gerloff und Wiechert beantragte der Bezirksstaatsanwalt je fünf Jahre Zuchthaus.

Wie die Beweisaufnahme ergab, hatten die Mitglieder dieser Gruppe, aufgehetzt und verseucht durch die beiden in Westberlin studierenden Grenzgänger Gerloff und Wichert [sic], sich ganz den Zielen der NATO-Kirchenführer verschrieben.

Die beiden Hauptangeklagten hatten aus Westberlin umfangreiches Hetzmaterial eingeschleust, das sie während der Bibelstunden in der Jungen Gemeinde verlasen. Diese beiden NATO-Kirchensöldlinge appellierten auch an die Mitglieder ihrer Gruppe – in provokatorischer Mißachtung des Verbots des Innenministeriums –, geschlossen an Veranstaltungen des Westberliner Kirchentages 1961 teilzunehmen.

Auf die Sicherungsmaßnahmen der Regierung [gemeint ist die Errichtung der Berliner Mauer; MM] reagierten die Banditen am 13. August auf dem Zeltplatz Bansin mit Verleumdungen gegen den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. Am gleichen Tag überredeten die beiden Hauptangeklagten ihre Kumpane zum verräterischen Verlassen der DDR. Während einer Seefahrt mit dem Motorschiff „Seebad Binz“ forderte die Bande gemeinsam mit Mitgliedern der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Brandenburg in provokatorischer Weise die Weiterfahrt nach Bornholm. Der Besonnenheit des Kapitäns und der Besatzung, die über Seefunk die Deutsche Grenzpolizei alarmierten, ist es zu danken, daß dieses freche Piratenstück vereitelt und die Sicherheit der rund 250 Passagiere gewährleistet wurde.

Natürlich hatte es keine „Banditen“ und keinen „Piratenstreich“ gegeben, auch keinen Versuch der „Republikflucht“. Was war wirklich geschehen?

Im August 1961 führten zehn Leute der „Jungen Gemeinde“ der Ev. Kirchengemeinde Schmöckwitz ein Zeltlager bei Bansin auf der Ostseeinsel Usedom durch. Schmöckwitz ist ein Stadtteil ganz am südöstlichen Rand von (Ost-)Berlin. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren 17 bis 25 Jahre alt. Die Gruppe stand in enger Beziehung zur Berliner Christlichen Pfadfinderschaft.

Nach Ende des 2. Weltkrieges hatten sich auch im östlichen Teil Berlins, also im Sowjetischem Sektor (später „Berlin, Hauptstadt der DDR“), CP-Gruppen gegründet. Mehrere Stämme bildeten die „Markschaft Ost“ der CP-Landesmark Berlin. (Eine „Markschaft“ war ein „Gau“ – heute im VCP meist Region oder Bezirk genannt – auf dem Gebiet eines Stadtstaates.) In der DDR durfte es aber neben dem staatlichen Jugendverband „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) keine anderen Jugendverbände geben. Evangelische Jugendarbeit konnte – sehr eingeschränkt und immer wieder gefährdet – nur im Rahmen der Kirchengemeinden stattfinden. Die Pfadindergruppen in Ost-Berlin traten deshalb nach außen nicht als CP-Gruppen in Erscheinung. Offziell waren sie einfach die „Junge Gemeinde“ der jeweiligen Kirchengemeinde. Aber man fühlte sich als Teil der Pfadinderbewegung, nahm – solange die Grenze noch offen war – an Lagern und Treffen in West-Berlin teil und heimlich auch an Veranstaltungen in West- Deutschland und sogar im Ausland.

Die Schmöckwitzer Gruppe, zu der auch Mädchen gehörten, gehörte nicht direkt zum Bund. Aber die beiden Leiter waren CPer, auch der oben erwähnte Horst Linke war sehr aktiv in der Ost-Berliner CP-Arbeit, und man beteiligte sich an Lagern und Veranstaltungen der CP. So wurden die Schmöckwitzer durchaus als „Siedlung“ der Landesmark Berlin angesehen.

Während die Schmöckwitzer die Tage an der Ostsee genossen, erreichte sie die Nachricht: In Berlin wurde die Grenze dichtgemacht! Am 13. August 1961 war durch bewaffnete DDR-Organe die Demarkationslinie zwischen den beiden Stadthälften abgeriegelt worden. Von nun an trennte die Mauer die Menschen in Ost und West. Niemand von den Jugendlichen konnte sich aber wohl damals schon wirklich vorstellen, was das bedeuten sollte…

Krönender Abschluss der Fahrt sollte ein Dampferausflug auf der Ostsee sein. Am 18. August fuhr die Gruppe früh morgens mit dem Zug von Bansin zur Hafenstadt

Wolgast. Dort bestiegen sie das Fahrgastschi „Binz“. Gebucht hatte man eine Tagesfahrt zur Küste von Bornholm. Natürlich war nicht geplant, dass das Schiff dort anlegt. Die Jugendlichen und die anderen Passagiere freuten sich trotzdem darauf, wenigstens aus der Ferne einen Blick auf die dänische Insel werfen zu können.

Doch das Wetter war schlecht, das Schiff geriet ins Schaukeln, viele Fahrgäste wurden seekrank. Der Kapitän entschloss sich, die Route zu ändern. Der neue Kurs hieß „Rund um Rügen“. Die Schmöckwitzer und eine freikirchliche Jugendgruppe aus Brandenburg an der Havel, die ebenfalls an Bord war, waren enttäuscht. Sie hatten trotz Wind und Wetter viel Spaß auf dem Deck. Und sie hatten sich doch so auf die Fahrt gefreut! Die Jugendlichen stimmten einen Sprechchor an: „Wir wollen nach Bornholm“. Davon bekamen aber die meisten der anderen Passagiere nichts mit.

Dann hatten die Schmöckwitzer eine alberne Idee: Sie schrieben einen Zettel an den Kapitän:

„Seiner Majestät, dem Herrn Admiral auf SMS ‚Seebad Binz‘ untertänigst übermittelt. In Anbetracht der guten Stimmung auf dem Oberdeck bitten 10 Berliner stellvertretend für die meisten Passagiere um Fortsetzung der Fahrt in Richtung Bornholm.“

Unterschrieben wurde der Brief auch von einigen Brandenburger Jugendlichen. Und von „Neptun“, dem römischen Meeresgott! Das Ganze war natürlich als Scherz gemeint, und die Verfasser hofften auf eine ebenso humorvolle Antwort des Schiffsführers.

Aber in den Tagen nach dem 13. August lagen die Nerven bei der Schiffsbesatzung wohl ziemlich blank. Der Steuermann jedenfalls benachrichtigte die DDR- Grenzpolizei, dass es Probleme an Bord gebe – ohne genau zu beschreiben, was vorgefallen sei. Daraufhin wurde ein Küstenschutzboot der DDR-Volksmarine zur „Binz“ geschickt. Dieses geleitete das Schiff zum Hafen Saßnitz auf Rügen, wo die „Binz“ – bewacht von Soldaten mit Maschinengewehren – anlegte. Die Schmöckwitzer und Brandenburger Jugendlichen hatten die ganze Zeit keine Ahnung, dass es ihre „Bittschrift“ gewesen war, die den Einsatz des Marineschiff es und die Landung in Saßnitz verursacht hatte. Sie aßen geruhsam im Speisesalon zu Mittag, als sie plötzlich aufgefordert wurden, das Schiff zu verlassen. Alle Schmöckwitzer und ein Teil der Brandenburger wurden verhaftet.

Schon vier Tage später begann ein Prozess vor dem Bezirksgericht Rostock. Weder Angehörige und Freunde noch Wahlverteidiger durften teilnehmen. Es war von Anfang an klar: Es ging der DDR-Justiz nicht darum, die Geschehnisse auf dem Ausflugsschiff aufzuklären. Sondern es sollte ein Exempel statuiert werden. Auf der Anklagebank saß gewissermaßen die gesamte Evangelische Jugend in der DDR. Der Prozess sollte öffentlichkeitswirksam zeigen, dass die jungen Christinnen und Christen in der DDR im Auftrag von westdeutschen „Spaltern, Friedensfeinden und NATO-Kräften“ handeln. Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte auch nach der staatlichen Teilung an der Einheit der Kirche festgehalten. Nun – nach dem Bau der Mauer – nutzten die DDR-Machthaber den angeblichen „Piratenstreich“, um die Junge Gemeinde ins Visier zu nehmen.

Im Prozess spielten auch „Hetzmaterialien“ eine Rolle – Schriftstücke und Zeitschriften, die u.a. bei Horst Linke beschlagnahmt worden waren. Darunter waren Exemplare der CP-Zeitschriften „Auf neuem Pfad“, „Jungenland“ und „Kreuzwacht“.

Interessanterweise spielten die Beziehungen zur Christlichen Pfadfinderschaft weder im Prozess noch in der DDR-weiten propagandistischen Berichterstattung über den Fall eine Rolle. Hatten die Ermittler übersehen, dass die beschlagnahmten „Hetzschriften“ zum guten Teil CP-Schriftgut waren? Hatten sie nicht erkannt, dass mehrere der Angeklagten aktiv in der Christlichen Pfadfinderschaft waren? (Jürgen Wiechert war ja sogar in Juja vor Gericht erschienen.) Das hätte doch eigentlich ein gefundenes Fressen für die Propaganda sein können: Die Angeklagten waren Mitglieder einer „illegalen Organisation“, die man leicht als westlich gesteuert und dazu als militaristisch hätte brandmarken können. Ich vermute, dass auf diese Zusammenhänge nicht so sehr geachtet wurde, weil ja die gesamte Evangelische Kirche in der DDR und ihre Jugendarbeit bekämpft werden sollten, nicht nur ein kleiner, zahlenmäßig unbedeutender Teilbereich.

Nur acht Tage nach der „Tat“ wurden die Urteile gesprochen. Acht Jahre Zuchthaus wegen „staatsfeindlicher Hetze und Nötigung“ für die „Rädelsführer“! Das waren sogar drei Jahre mehr, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Gefängnisstrafen für die anderen. Das kann man wohl ein Terrorurteil nennen!

Dietrich Gerloff und Jürgen Wiechert wurden im Oktober 1963 „begnadigt“. Vorangegangen waren intensive Bemühungen von westdeutschen Kirchenleuten und Politikern und die – natürlich heimliche – Zahlung von 100.000 DM durch die Bundesrepublik an die DDR.

(Das waren die ersten Fälle von „Freikauf“ von politischen Häftlingen.)
Die zu „kürzeren“ Gefängnisstrafen verurteilten Jugendlichen mussten ihre Strafe zum großen Teil vollständig absitzen.

Mit dem 13. August 1961 kam auch das Ende der CP- Arbeit in Ost-Berlin. Viele der Gruppen lösten sich aber nicht auf, sondern machten als „normale“ Junge Gemeinden weiter. Auch die Schmöckwitzer Gruppe bestand noch einige Jahre. Die meisten der Verurteilten schlossen sich der Gruppe nach der Haftentlassung wieder an. Nach ihrer Junge-Gemeinde-Zeit blieben viele in Kirchengemeinden in Ost-Berlin aktiv. Fast alle blieben in der DDR. Die beiden „Rädelsführer“ aber sahen sich nach erneuten Repressalien gezwungen, in den Westen zu gehen.

Horst Linke nahm nach der Wende an den jährlichen Älterentreffen der Berliner CPer und VCPer*innen teil.

Die Ost-Berliner CPer und die Schmöckwitzer Jugendlichen versuchten, unter dem totalitären DDR-Regime als junge Christenmenschen selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten. Dadurch handelten sie sich Probleme und Nachteile ein, einige mussten ins Gefängnis oder wurden von der Stasi drangsaliert. Dies sollten wir auch 60 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer und mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR nicht vergessen.

Jürgen Wiechert konvertierte später und wurde katholischer Priester; er starb am 09.05.2015.

Dietrich Gerloff wurde Gymnasiallehrer, er ist am 19. Juli 2021 in Pinneberg verstorben.

Michael Maillard (Wallenstein)

Quellen:

Hellmuth Henneberg; Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ? Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock. Hinsdor -Verlag, Rostock 2002. (Eine sehr ausführliche, spannend geschriebene Recherche. Lesenswert! Leider nur noch antiquarisch erhältlich.)

Klaus Lischewsky: Kugelkreuz und Lilie – Christliche Pfad nder der Jungen Gemeinde Ost-Berlins 1946-1961. Über die o ziell nie bestanden habende Markschaft Ost der CP-Landesmark Berlin. kreuzwacht-SPEZIAL 2001 (Herausgegeben von der Fritz-Riebold- Gesellschaft durch Karl Dienst u.a.), Online unter https://bk-bund- berlin.de/wp-content/uploads/bk-nachrichten/data/kreuzwacht _2001.pdf

Faksimile aus Hellmuth Henneberg: Meuterei…, S. 24

Die äußerst spannende Geschichte ist vor einige Wochen auch in den „Berliner BK-Nachrichten“ veröffentlicht worden:

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